von Martin
Das neue Jahr begann, wie das alte geendet hatte. Nach den Deutschen Vereinsmeisterschaften U16w und U10 vor Silvester ging die Reise für Anne und Paula sowie uns fünf Zielkes schon am Neujahrstag auf die Ostalb, ins malerische Schwäbisch Gmünd zu einem der größten Turniere Deutschlands. Fast 600 Spieler in 2 Turnieren über 9 Runden im 35. Staufer Open. Ein illustrer Teilnehmerkreis mit diversen Großmeistern und anderen Titelträgern, Deutschen Jugendmeistern und Schachwunderkindern im A-Turnier. Ein großer Teil des sächsischen Jugendkaders samt Trainern und sogar Streamer vor Ort – alles bereit für einen schachlichen Festschmaus, der der Völlerei über die Weihnachtsfeiertage in Nichts nachstehen würde.
Während wir Zielkes, dem gerade eingeführten höheren CO2-Preis zum Trotze mit dem eigenen PKW angereist, schon die erste Eisschokolade in einem der örtlichen Cafés schlürften, kämpften die beiden Damen mit den schon sprichwörtlichen Tücken des öffentlichen Fernverkehrs. Der geplante Zug in Berlin defekt, der Ersatzzug spät dran. Am Ende verlor die Deutsche Bahn das Rennen gegen sich selbst knapp und kam 10 Minuten nach der Abfahrt des Anschlusszuges in Nürnberg an. Also 2 Stunden auf den nächsten warten, Ankunft im Hotel dann erst gegen 21 Uhr.
Am Donnerstag ging es dann los. 4 Doppelrunden, eine Schlussrunde und die Siegerehrung am Dreikönigstag standen uns bevor. Paula und Anne starteten im A-Open ab 1.800 DWZ, der Rest im B-Open bis 2.000 DWZ-Punkten. Während Anne die beiden Partien im beschleunigten Schweizer System gegen etwas schwächer bewertete Spieler jeweils remisierte und erst auf Touren kommen musste, startete Paula, mit Setzlistenplatz 268 von 277 Teilnehmern, gleich mit einem Remis und einem Sieg gegen Gegner mit 1900 und 2000 DWZ. Ungeschlagen am ersten Tag, 2 ½ Punkte für die inoffizielle Familienwertung und unsere zweifache Deutsche Jugend-, Schulschachmannschafts- und neuerdings Vereinsmannschaftsmeisterin steht in der Tabelle vor der Mama. Da konnte die Aufbau-Fraktion im B-Open mit konventioneller Auslosung im Schweizer System nicht mithalten. Ein deutliches 0:4 in der Vormittagsrunde und immerhin Siege für Mika und Martin nachmittags waren aber durchaus im Rahmen des zu Erwartenden.
Einmal drüber schlafen, mehr oder weniger intensiv vorbereiten und auf in den 2. Tag. Paula konnte ihren starken Start nicht ganz halten, nach einem Remis vormittags war in der 4. Runde leider kein Punktgewinn mehr drin. Ganz anders Anne – 2 Siege bedeuteten am Ende des Tages insgesamt 3 Punkte, weiterhin ungeschlagen und Platz 31 in der Tabelle am Ende des 2. Tages. Im B-Open blieben Mika und Martin im Rhythmus – früh im großen Saal verlieren, nachmittags an den hinteren Brettern im kleinen Spielsaal gewinnen. Marek fand mit einem Sieg und einem Remis in die Spur. Antonin, unser jüngster Aufbauer, wartete trotz ordentlichem Spiel und Partien, die teilweise länger dauerten als die von Mika und Paula, weiterhin gegen stärkere Gegner auf den ersten Punkt.
Tag 3. Als Lohn für die bisherigen Leistungen war Anne inzwischen an die live übertragenen Bretter vorgerückt (wer ihre Partien aus den Runden 5-8 anschauen möchte, findet den Link derzeit noch unter https://lichess.org/broadcast/35-staufer-open—open-a/round-1/hHtSHpUe). Die Luft da oben wird natürlich dünner. Runde 5 eine WGM mit fast 2.300 Elo-Punkten. Anne spielt weiß und kann die Sizilianische Verteidigung der Gegnerin gut parieren. Dann, nach 35 Zügen, zwei kleinere Ungenauigkeiten und der Gegnerin bieten sich auf einmal Chancen im Endspiel mit Türmen und verschiedenfarbigen Läufern. Doch niemand spielt unfehlbar, nach einigem Hin und Her ist die Stellung nach 51 Zügen wieder ausgeglichen und geht nach 75 Zügen remis aus. Während Paula in der ersten Runde leider punktlos bleibt, kann sie im zweiten Durchgang des Tages die kurze Durststrecke überwinden und holt Punkt Nr. 3.
Und Anne? Die hat noch lange nicht genug. Runde 6, ein FM mit 2.350 DWZ-Punkten, ein harter Gegner. Aber nicht hart genug für Anne „FIDE-Titel sind auch nur komische Buchstabenkombinationen“ Czäczine! Von Anfang an hat nur unsere Spielerin Vorteile, gewinnt einen Bauern. Dann verrechnet sich der Gegner offenbar und zahlt für zwei Bauern teuer mit einem Läufer. Einige Manöver später stehen noch Turm und zwei Bauern beim Gegner gegen Turm, Springer und Bauer auf dem Brett und der Punkt in der Partie auf dem Ergebnismeldezettel. Währenddessen hallen mitfiebernde Ausrufe und exotische, selbstgedichtete Fangesänge aus der Ferienwohnung in der Mörikestraße, wo drei Jungs am Laptop das Livebrett verfolgen.
Unterdessen im B-Open: Mika bleibt seinem Muster treu, Niederlage im großen Saal in der Frührunde, Sieg im kleinen Saal in der Nachmittagsrunde. Martin verliert den Mut und kommt aus dem Tritt. Vormittags die vorher berechnete Kombination blind durchgezogen und den Verlust der Qualität statt eines Bauern nicht noch gesehen. Nachmittags nicht genug Schneid, das Königsgambit des jungen Gegners anzunehmen. Er steht hundsmiserabel und findet gerade so etwas Gegenspiel. Dann die Chance, Matt in 2 auf dem Brett. Aber dafür müsste man einen Turm opfern und ein Zielke opfert kein Material, auch wenn es um den Sieg geht. Also weiter gespielt, abgewickelt und im Turmendspiel mit Randmehrbauer gibt es keinen Sieger. Nur ½ Punkt am 2. Tag. Marek hadert mit der Auslosung, zwei deutlich stärkere Gegner in Folge und kein Punkt. Antonin bietet sich die große Chance auf ein Erfolgserlebnis. Ein Gegner in seinem Alter, sogar etwas schwächer gewertet, aber letztlich steht zum fünften Mal die 0 auf der Habenseite. Jetzt droht sogar ein spielfreier Nachmittag, das Tabellenende ist nah. Stattdessen darf er auch einmal in den großen Spielsaal einziehen, die Gegnerin wartet dort an einem festen Sonderbrett für Spieler mit gesundheitlichen Einschränkungen. Und diesmal gibt er alles. Sicher in der Eröffnung, konzentriert durchgezogen und endlich der ersehnte erste Punkt im Turnier.
Der vorletzte Tag steht an. Anne ist nach 6 Runden weiterhin ungeschlagen und steht auf Platz 21, (mit Setzlistenplatz 60). Paula hat auf Platz 155 übernachtet. Die Zielkes im B-Open habe auf Platz 144 (Mika), 190 (Martin), 252 (Marek) und 270 (Antonin) von 283 Teilnehmern noch deutlich Luft nach oben.
Antonin ist auf den Geschmack gekommen. Noch ein schaffbarer Gegner und er schafft ihn auch. Zwei Punkte in Serie, die Aufholjagd ist gestartet – und endet gleich wieder, am Nachmittag folgt eine Niederlage. Mika traut sich noch nicht über den Weg und wählt etwas vorschnell im Turm-Springer-Endspiel mit Mehrbauern das Remis durch Zugwiederholung. Während Martin gegen einen gerade erst vom Online- auf Turnierschach umgestiegenen Gegner verliert, schließt Marek mit Sieg Nr. 2 wieder zu ihm auf. Am Abend dann komplett gegensätzliche Verläufe. Martin nutzt die Fehler der Gegnerin in deren schottischer Eröffnung aus und hat nach 17 Zügen samt Figuren- und Damengewinn in 45 Minuten Feierabend. Nur um festzustellen, dass Mika schon mit der Partieanalyse fertig war, da sein 140 DWZ-Punkte stärkerer Gegner schon nach 15 Zügen in hoffnungsloser Stellung das Handtuch geworfen hatte. Marek spielt dagegen seine längste, spannendste und nach eigener Aussage lehrreichste Partie des ganzen Turniers. Am Ende haben beide Kontrahenten noch ca. 1 Minute auf der Uhr (bei 30 Sekunden Inkrement). Die am Schluss berechnete Variante mit Figurenopfer für ein ersticktes Matt geht leider nicht ganz wie gedacht auf, der Gegner holt den Punkt. Dennoch ist Marek mit dem Verlauf und der Partie zu Recht zufrieden und kommt erschöpft, aber freudestrahlend heim.
Und bei unseren Damen? Paula sammelt offenbar ihre Kräfte für den letzten Tag und muss in beiden Partien des Tages ohne Punkte auskommen. Anne ist dagegen weit vorne angekommen. Jugendvizesachsenmeister, WGM und FM überwunden, was soll da noch kommen? Zwei Großmeister an einem Tag! Am Morgen gegen einen tschechischen Großmeister, der mit den weißen Steinen angreift. Anne verteidigt geschickt, schließt die Stellung, gibt dem Gegner keinen Raum zum Angriff. Die Schwerfiguren tauschen sich, der letzte Springer reißt den weißfeldrigen Läufer mit sich vom Brett. Blockierte Bauernketten, verschiedenfabrige Läufer, kein Durchkommen für den GM, keine Angriffspunkte, die Partie endet nach 65 Zügen remis.
Eine kurze Mittagspause, etwas Vorbereitung und auf in die nächste Runde. Wieder hat die Auslosung Anne die schwarzen Figuren beschert, diesmal eröffnet der griechische GM englisch. Die Stellung bleibt lange ausgeglichen, doch im 31. Zug ergibt sich ein folgenschwerer Spieß für den Gegner. Die schwierige Verteidigung gelingt nicht, so dass es für die verlorene Qualität keine Kompensation gibt. Nach 53 Zügen muss sich Anne zum ersten und einzigen Mal in dem Turnier geschlagen geben. An den Plakatwänden hängen neben den normalen Tabellen auch die Zwischenstände der Sonderwertungen. Vor dem letzten Tag steht Anne in der Damenwertung auf Platz 3 hinter einem chinesischen Wunderkind (14 Jahre alt, IM-Titel, 2400 Elo) und der WGM. Dazu in der weiteren Sonderwertung bis 2.150 DWZ mit einem halben Punkt Rückstand zum Führenden auf Platz 2 mit der besten Buchholzzahl der zahlreichen punktgleichen Spieler.
Der Finaltag bricht an. Anne und Paula haben mittlerweile eine Mitfahrgelegenheit für den Heimweg aufgetan und müssen sich zumindest nicht mehr um die Deutsche Bahn sorgen. Ein kurzer Frühlingseinbruch beschert uns zweistellige Außentemperaturen – Zeit für einen Spaziergang mit Zielkes für Paula, denn ihr Gegner erscheint nicht, kampflos gewonnen und am Tag vorher umsonst Kräfte gespart. Martin hat seinen bisher stärksten Gegner, der sich dazu noch unerhörterweise nicht an die Vorbereitung hält und den anderen Läufer als erwartet fianchettiert. Ein schneller Bauernverlust, Harakiri auf der Suche nach Gegenspiel und aus die Maus. Antonin hat nochmals einen deutlich stärkeren Gegner und beendet das Turnier mit insgesamt 2 Siegen. Marek gewinnt souverän und landet wie Martin bei 3 ½ Punkten. Mika hat vor der Runde schon eine 50%-Quote sicher und will mehr. Der etwas stärker gesetzte und 6 Jahre ältere Gegner eröffnet spanisch. Mika nimmt den Bauern auf d4 und steht unter Druck, weiß rückt weit vor und lässt ihm wenig Raum. Doch unser Sachsenmeister windet sich heraus, geht am Damenflügel vor, verteidigt, tauscht ab und geht mit einem Mehrbauern ins Turmendspiel. Mikas Bauernstruktur mit drei isolierten Bauern ist nicht gut, die vom Gegner ist aber noch deutlich schlechter. Nach 70 Zügen ist der Randbauer nicht mehr aufzuhalten und Mika krönt seinen Schlussspurt mit 3 ½ Punkten aus den letzten 4 Runden.
Nur Anne spielt noch, zum Abschluss gegen einen niedriger bewerteten jungen Spieler. Die Bewertung der zwischenzeitlichen Stellung geht in der Familie Czäczine auseinander und schwankt anschließend zwischen „du standest doch zwischendurch schlecht“ und „häh, ich stand doch die ganze Zeit besser?“. Im Dame-Springer-Endspiel setzt sich Anne durch und beendet das Turnier mit nur einer Niederlage gegen einen Großmeister. In der Damenwertung liegt sie am Ende punktgleich mit den beiden durch Buchholzwertung vor ihr liegenden schachlichen Schwergewichtinnen und in der Sonderwertung bis 2.150 DWZ gelingt nach einer Niederlage des vorherigen Spitzenreiters sogar noch der Sprung auf Platz 1!
Auch Paula (4 Punkte, 83 Plätze vor dem Startrang) und Mika (5 ½ Punkte, 70. Platz im B-Open und damit 87 Plätze besser als gesetzt) können mehr als zufrieden mit ihren Leistungen sein. Marek legte als 213. in diesem Vergleich eine Punktlandung auf dem Startrang hin. Antonin und Martin konnten, öhm, viel dazulernen.
Der Jahresauftakt ist gemacht, die nächsten Turniere schon ins Auge gefasst und die Ferienwohnung für das nächste Jahr sicherheitshalber schon mal reserviert. Aber jetzt steht der Alltag an. Und natürlich ein gebührender Empfang für unsere Heldinnen von Neumünster!